• various cruelties 1 - Der Exterminator

    Ein Schrankturm von einem Mann, etwas zu groß für die Welt, sitzt auf einem etwas zu kleinen Stuhl an einem zu kleinen Tisch mit einer unscheinbaren, etwas zu ängstlichen Frau. Sie trinken Tee. Langsam und etwas zu laut spricht er zu ihr:

    Na ja, ein bisschen einsam ist das. Aber was soll man machen? Kann man ja sagen, ist mein Dienst an der Gesellschaft. Dienst an der Waffe sozusagen. (er lacht und wird wieder ernst) Schon richtig mit Ausbildung und so. Insektizide. Akarizide. Rodentizide. Larvizide. (sie lächelt) Ja, das sagt den meisten nichts. Klar. Ist bei denen immer nur so ein Interesse, um was zu reden. Deswegen sag ich’s schon immer nicht gern. Nervengift. Da schrecken sie dann zusammen. So genau wollen sie’s dann doch lieber nicht wissen. „Ach sehen sie nur, jetzt sind sie aber ganz schön aufgeregt…“ Ja wie gesagt – Nervengift! Sollen sie ja auch. Die die drin sind, im Nest, sind sofort hinüber und die die draußen sind krepieren über Nacht. Ich hab eigentlich nichts gegen die Viecher. Hat manchmal direkt was anmutiges, wie sie so ineinander krabbeln oder durcheinander fliegen. Sind manchmal richtige Muster. Klar die haben ja auch ihre Ordnung. Schon sehr schön, manchmal. Aber ich sag immer, von denen krieg ich ja nicht mein Gehalt, sag ich immer. Wenn die Viecher mich zahlen würden, wer weiß… (die Frau zuckt kurz zusammen) Na. Das ist jetzt aber auch nur so rein gedacht, so theoretisch. Aber ganz lustig eigentlich. Denk ich schon manchmal, wie’s so wäre, sich einfach mal mit denen zu verbünden. Die könnten jemanden wie mich gut brauchen. Jemanden der groß ist, kräftig. (er denkt über sich nach) Vielleicht nicht so schnell. Aber schnell sind die ja selber. Ja. Denke ich manchmal so. Na, man braucht schon einen gewissen Instinkt, so, um sie ausfindig zu machen. Damit man genau weiß, wo man die Spritze ansetzen muss. Ist nix für Totaldoofis. Hab meine Ausbildung noch im Osten gemacht oder eignetlich so mittendrin, in dieser Wendezeit. Aber Ungeziefer gibt’s jetzt genauso wie früher. Ist krisensicher. (die Frau nickt, man könnte Interesse interpretieren) Die sollen mir nicht kommen mit Kammerjäger. Ach das ist ja der Herr Kammerjäger. Ja wenn sie gern in ner Kammer leben wollen. Gibt’s doch schon lange nicht mehr. Schädlingsbekämpfer. Ein bisschen Respekt. Man macht halt seinen Job. Und der ist nun mal nicht jagen, sondern vernichten. Und zwar zielsicher. Aber wie gesagt, sonst macht’s ja keiner. Sollte man besser auch nicht ran. Die sind ja auch nicht doof. Die Viecher. Na ja ein bisschen Humor kann man schon mal haben. Manchmal gibt’s ja auch ein Kaffee oder was. Aber meistens will ich das auch gar nicht. Meistens da denkt man schon, auch nicht so schade, wenn man noch mal ein bisschen drum herum sozusagen - bereinigt… Ungeziefer ist ja ein weiter Begriff. Und wirken tut’s schon, muss man nur wissen, was und wie man’s dosiert…  (er schaut sie lange an, sie verschluckt sich) Aber man muss halt immer gucken, wer’s einem dankt.

  • various cordialities 1 - Der Junge, der in Obstbäumen schlief

    Ein Mann, nicht mehr ganz jung auch noch nicht alt, sitzt mir gegenüber und erinnert sich plötzlich. Wir haben die zweite Flasche Wein geöffnet und sitzen am offenen Fenster in seiner Küche. Der Stadtlärm schwappt in kleinen Wellen herein. Es ist Nacht, Spätsommer, kühl schon, aber der Baum im Hof steht noch in vollem Grün. Wir haben gegessen, was er gekocht hat und ich erzähle von den Fotos aus meiner Kindheit, die ich kürzlich betrachtet habe, wieder gefunden in klammstaubigen Koffern und Schachteln in meinem Keller. Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Foto von meinem jüngeren Bruder, irgendetwas ausgewogen witzig sentimentales, das ich ihm zu seiner anstehenden Hochzeit als Erinnerung an unsere gemeinsam verbrachte Zeit schenken könnte. Ich suchte nach einer Erinnerung an die Tage, in denen wir noch zwangsläufig miteinander zu tun hatten, in einem Zimmer wohnten, trotz des Altersunterschiedes und trotz der späteren Entfremdung, die sicher schon damals ihren Ursprung nahm. Nun erzähle ich dem Mann, der mir jetzt sehr deutlich zuhört, von dem Gefühl, da müßte es zumindest ein Foto geben, dass dieses Gefühl aber täuscht, ich keines finde, das für meinen Anlass zu gebrauchen ist, aber schon bald in anderen versunken bin. Fotos, die nicht meinen Bruder, sondern mich zeigen als Kind. Fotos von Urlauben, Klassenfahrten, Ferienlagern. Auf allen stehe ich im Hintergrund und sehe traurig aus. Fassungslos betrachte ich ein ums andere Bild und finde nicht die Übereinstimmung mit meiner Erinnerung.

    Die Geschichten, die ich heute von meiner Kindheit erzähle, beschreiben mich zwar als verträumtes, aber doch sehr lebendiges Kind. Jetzt, beim Betrachten der Bilder bin ich enttäuscht. Enttäuscht von mir selbst und ich glaube zu verstehen, warum damals niemand etwas mit mir zu tun haben wollte, mit so einem schüchternen langen Schlacks, der für Fotos immer wie angesagt (Die Großen nach hinten, die Kleinen nach vorn!) in die hinterste Reihe trat und mit schiefgelegtem Kopf in die Kamera traurigte. Ich bin enttäuscht über meine fehlende Frechheit, über meine Zurückgenommenheit, die doch wenn ich darüber nachdenke, damals die einzige Möglichkeit war, zu sein. Ich scheine also einen Schleier der Verklärung auf meine Kindertage gelegt zu haben, fasse ich dem Mann, der mir gegenüber in seinem Espresso rührt meine Entdeckung zusammen. Ich habe Spaß am Formulieren in seiner Gegenwart. Wir sind an diesem Abend sehr rasch zu dem Punkt gekommen, wo eine Geschichte das Stichwort für die nächste ergibt, wir uns gegenseitig unsere Sätze ergänzen und dabei feststellen, wie oft wir ähnlich empfinden.

    Wir spüren, wie die andere Seele die eigene reflektiert. Wir pusten nichts auf. Wir sind ehrlich. Wir finden Gemeinsamkeiten und sind uns die meiste Zeit einig in der Auswertung unserer erzählten Erlebnisse. Jetzt sagt der Mann mir gegenüber, das es komisch sei, aber er habe fast die gegensätzliche Erfahrung gemacht, als er Kinderfotos von sich betrachtet hat. Ich frage inwiefern und er beschreibt sein Erstaunen, sich auf alten Fotos so fröhlich und vergnügt zu sehen, obwohl er in seiner Erinnerung eigentlich von allem genervt war. Die Schule hätte er gehasst, soziale Kontakte wären ihm ein Graus gewesen und am liebsten hätte er allein in den Kronen der Obstbäume geschlafen. Augenblicklich stelle ich mir eine Illustration der Brüder Grimm Märchen vor, eine Zeichnung, die einen Jungen schlafend auf einem Apfelbaum zeigt. Er sagt, ja so war es tatsächlich, märchenhaft. Manchmal hätte er sich dabei von einer Baumkrone zur nächsten gewippt. Wie, frage ich erstaunt, wie geht das? Das ist etwas, was man wohl nur als Kind tun könne, sagt er. Das hat mit dem Gewicht zu tun. Ein Erwachsener sei zu schwer und könne dabei nicht vom Baum gehalten werden. Als Kind aber kann man die Baumkrone so in Schwingung versetzen, dass man in den nächsten Baum überspringen kann und so sei er manchmal in luftiger Höhe immer weiter gewandert, bis er schließlich irgendwo auf den Ästen eingeschlafen sei.

    Er hätte sich dort am liebsten vor der restlichen Welt verkrochen und deswegen kämen ihm jetzt die Fotoaufnahmen, die ihn als ein offenes und fröhliches Kind zeigen so merkwürdig falsch vor. Ich schweige und sehe aus dem geöffneten Fenster neben dem Küchentisch in den dunklen Nachthimmel, beeindruckt. Diese Geschichte verlangt einen Moment Andacht. Weil ich mich gleichzeitig beobachtet fühle, lege ich jetzt den Kopf schief, um die Sterne sehen zu können. Der Wind raschelt durch den Baum im Hof und ich überlege zum ersten Mal an diesem Abend, was ich sagen kann.

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